Leben am Schneeberg

Unterhaltsam mutet ein anonymer Brief vom 10. Oktober 1910 an das k.k. Revierbergamt in Hall an, in welchem eine weibliche Schreiberin ihre klaren Verbesserungsvorschläge bezüglich der Belegschaftszusammensetzung an die Obrigkeit kundtut:

“Im Namen des ganzen Arbeiterpersonales Schneeberg wird nochmals mit der höflichsten Bitte ersucht, die Maria Fröhlich zu entlassen. Im Herbst hatten wir die Bitte erhalten und jetzt ist sie wieder heroben: der reinste Unfriedsgeist, eine Verlogene, eine Hetzerin und eine gräusliche Person. So ist auch die Frau Filomena Urthaler. Solange die zwei Weiber da sind, wird keine Ruhe und kein Frieden sein. Der ganze Schneeberg ist oft in Aufregung wegen dieser Weiber. Man könnt wohl ganze Bögen überschreiben, wenn man alles aufdecken würde, es ist ihnen wohl viel übersehen worden. Also nochmals höflichst ersuchend, das Schneeberger Arbeiterpersonal.”

Bei der mindestens 800jährigen Abbaugeschichte am Schneeberg ist es schwierig, allgemein und pauschal über die Lebensbedingungen auf über 2.300 Metern zu schreiben. Abgesehen von mehreren Unterbrechungen im Bergbau, schwankten die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, und mit ihnen auch die Beschäftigtenzahlen beträchtlich. In Zeiten der Hochblüte um 1500 ging das Leben am Berg entsprechend hoch her. Das Bergvolk war bis zu tausend Personen stark. Der Bergsegen verhalf auch den einfachen Arbeitern wie Hasplern, Truhenläufern, Huntstößern, Erzziehern, Wasserhebern sowie Poch- und Schlämmknechten zu gutem Verdienst. Ausgebildete Bergleute, die Hauer, waren gesucht und sie wussten ihren Marktwert auch entsprechend umzusetzen und ihre Privilegien auszubauen. Die “Bergwerksverwandten”, wie die Gesamtheit der im Bergbau Beschäftigten bezeichnet wurde, genossen den “Bergfrieden”, welcher eine friedliche wirtschaftliche Entwicklung, ähnlich wie in mittelalterlichen Klöstern und Städten, garantierte. Oberster weltlicher Herr war der Bergrichter, doch der zuständige Bergrichter in Terlan im Etschtal, ab 1479 in Sterzing, war weit. Die Abgeschiedenheit der Knappensiedlung am Schneeberg garantierte in mehreren Bereichen eine Sonderstellung innerhalb der Bergwerke Tirols. Die Arbeitszeit der Knappen, welche die Familien im Tal hatten, wurde konzentriert. Das heißt, an die Stelle der üblichen Schichten von acht Stunden unter Tage traten zehnstündige. Dadurch reifte nach zwei Wochen Arbeit eine freie Woche an, welche den Abstieg erst sinnvoll machte.

Über das Leben neben der harten Arbeit am Berg in der frühen Neuzeit ist wenig überliefert. Verschiedene Erlässe der Landesfürsten gegen “schlechte Manneszucht und die ärgerlichen Laster, Unzuchten und Leichtfertigkeiten” (1578) sowie die Ermahnung, an Sonn- und Feiertagen den Gottesdienst zu besuchen, damit der Allmächtige nicht - durch das lasterhafte Leben der Bergleute gereizt - den Bergsegen abschneide, lassen Rückschlüsse auf einen liberalen Lebensstil der Knappen im Spannungsfeld kirchlicher Einflussnahme zu.

Gut belegt ist hingegen das Alltagsleben in der Zeit nach 1870, der Wiederaufnahme des staatlichen Bergbaues. Neben schriftlichen Quellen, graphischen Unterlagen und Erinnerungen von Zeitzeugen auf Tonband, kann man erstmals auch auf authentische Abbildungen, Fotographien zurückgreifen, welche lebendiger als jeder Text, Eindrücke vom Leben am Schneeberg und in der Aufbereitung in Maiern vermitteln.

Dass das Zusammenleben des Bergvolkes nicht immer einfach und spannungsfrei verlief, erklärt sich durch die explosive Mischung der Belegschaft und die objektiven Belastungen wie die harte Arbeit, die extremen klimatischen Bedingungen, die Abgeschiedenheit von der Außenwelt und die räumliche Enge in den Unterkünften. Vorgesetzte und Untergebene, Gebildete und Analphabeten, Männer und Frauen, Verheiratete und Unverheiratete, Arbeiter(innen) aus den verschiedenen Tälern, Angehörige verschiedener Nationen mit unterschiedlichen Sprachen und politischen Überzeugungen, verwegene Glücksritter, entlassene Sträflinge, Alte und Junge. Das Konfliktpotenzial innerhalb der Berggemeinschaft hätte größer kaum sein können. Einzelne Konflikte endeten deshalb nicht selten in persönlichen Tragödien wie Selbstmord, Mord, Schlägereien, Körperverletzungen, Gefängnisaufenthalt oder der stets drohenden Entlassung.